(Stipendien Kultusministerium NRW & Bund& VG Wort)

 

GENRE: Historischer Roman, Frauen, Kulturgeschichte

 

ORT: Heiliges Römisches Reich deutscher Nation

 

ZEIT: um 1675

 

Zielgruppe: Frauen, Theaterfans, Historienfans

 

Länge: 484 Normseiten

 

Die Geschichte einer Wanderbühne, die über einen Mord und eine persönliche Katastrophe- ins Glück stolpert. Wie aus Posse, Puppenspiel und Schwank die deutsche Schauspielkunst entstand.

EXPOSÉ

 

Zum Glück sind Schauspieler geschwätzig. Gesine, altgediente Komödiantin, ist keine Ausnahme. Wie sonst erführe je einer davon, wie Borkes Schaubühne, nach Jahrzehnten der Wanderschaft, zerbrach? Seit dem großen Krieg, von dem manche behaupten, dass er 30 Jahre währte, zog die Wanderbühne über Land. Und dann? Dann fegten Ereignisse, die weder die deutschen Lande und erst recht nicht die Welt bewegten, sie mit einem gelangweilten Winken von der Szene. Und doch. Und doch. Was das Ende aller Hoffnungen schien, wurde der Anfang eines neuen, nie dagewesenen Spiels. Aus Landstreichern wurden Darsteller. Aus einer Wanderklitsche, wie man die Schaubühne – nicht ganz zu Unrecht – verspottete, mauserte sich ein Ensemble, das auf einem Schloss sein Zuhause fand.

Die Truppe bestand vormals nur aus wenigen Komödianten, ihren Kindern und einem alten Soldaten:

Da waren, neben Sine, die leider talentierte Bridje, Nella, die Verführerische, Jokel der Schlawiner, Augustin, der Wiener, George, ein englischer Tausendsassa, Ignaz, der alte Haudegen, der die Truppe beschützte, und Madlin, die leidlich spielte, aber köstlich kochen konnte. Und die Kinder, die herum wuselten, Sines Tochter Katja, Piet, Bridjes Sohn, und Nunu, das Maskottchen der Truppe. Zudem die Ziegen, Judy und Punch, die Milch, Käse und Perücken lieferten, Liesl, ihr altes Zugpferd und Rheingold, der treue Wachhund. Und, selbstredend, der Prinzipal, Heinrich Borke, genannt Hette. Sein Ehrgeiz trat los, was die Schaubühne bald an den Rand eines Abgrunds schubste, und dort baumeln ließ. 

Dabei war ihr Wanderleben nicht leicht aber frei gewesen. Zumal das Leben der Frauen. Auch wenn Bürgerfrauen sie auslachten. 

„Ihr Weiber genießt die gleichen Rechte wie Männer? Ihr seid Rechtlose! Die Hälfte von keinem Kuchen ist auch kein Kuchen. Nur Luft. Und Hunger. Not und Gefahr.“ 

Doch die Komödianten überstehen Hungerwinter, die Pest und mordlustige Bürger. 

Dann geraten sie nach Küttnich. Fürst Marian, ein Förderer der Künste, soll Hochzeit mit Prinzessin Adelea halten, der Tochter seines mächtigen Nachbarn. 

Der Stadtschulze gewährt ihnen eine Spielerlaubnis in der Dorfscheune. Aber Hette will höher hinaus. Er präsentiert sich oben, auf dem Schloss. 

Dort ist fatalerweise eben Adeleas Hofdichter zu Tode gekommen. Die Prinzessin lässt Hette verhaften. Die Brautleute fetzen sich. Sie können einander ohnehin nicht leiden. Doch Fürst Marian braucht die Mitgift, um Küttnich zu sanieren. Adelea ist schwanger von Ewald von Eulenberg, dem Dichter. 

Hette stolpert buchstäblich über den Toten. Nichts ahnen seine Komödianten unten im Städtchen, bis Ewalds Tod und Hettes Verhaftung dort ruchbar werden. Die Stimmung der Bürger schlägt um.

Jede kluge Truppe würde fliehen. Nur wäre ihr Prinzipal dann verloren. Sie harren aus. Sine und ihre Tochter verdingen sich auf dem Schloss, um Hette zu helfen. 

George schleicht sich als englischer Pastor ein. Bischof Matti empfängt ihn begeistert. Der Bruder des Fürsten hat dringende Pläne für die eigene Karriere und keine Zeit, sich der Hochzeitvorbereitung, geschweige denn dem Begräbnis eines Höflings zu widmen. Freudig brummt er all das seinem englischen Gastfreund auf. Dabei stolpert ‚Reverend George’ über die Wahrheit von Ewalds Tod. 

Heimlich berät er sich mit seinen Kollegen. Doch sie sind ohnmächtig, ohne Bürgerrechte. Gegen Adlige hätten sie keine Chance. Zertreten würde man sie wie Läuse. Sine schlägt vor, es einem ihrer Bühnenhelden gleichzutun. Wie Hamlet sollten sie ihr Wissen in ein Theaterstück einweben. Alle sind dagegen. Es wäre aussichtsarm und zu gefährlich. Jedoch, ein besserer Einfall wächst nicht nach. Zittrig beschließt die Truppe, um Spielerlaubnis auf dem Schloss zu ersuchen. Mit Georges Hilfe gibt der Fürst sein Placet. Die Komödianten nehmen sich eins ihrer Stücke vor, verbiegen es, stopfen es mit Andeutungen voll, schnüren und zurren es zusammen wie den wackligen Aufbau ihrer Lastkarren und ziehen aufs Schloss. Sie spielen um ihr Leben – und werden alle verhaftet. Ihnen gelingt die Flucht. Zurückbleiben der alte Wächter, ihre Ausstattung und Instrumente. 

Die Aufführungen der Schaubühne versickern so kläglich wie die Einnahmen. Der Zusammenhalt zerbricht. Die Truppe strandet in einer Reichsgrafschaft. Der Landesherr stellt sie unter seinen Schutz. Er und seine Gattin, eine Tochter des Kaisers in Wien, träumen von ihrem eigenen Hoftheater und brauchen ein Ensemble. Die Truppe ist überwältigt. Aber so harmlos, wie es schien, ist die Sache nicht. Wie so oft sind die Komödianten weniger Spieler denn Spielbälle in den Händen der Mächtigen Zur Eröffnung des Schlosstheaters erscheint auch das Küttnicher Fürstenpaar. Als die ihrer entlaufenen Gefangenen ansichtig werden, kommt es zum Eklat. 

 

LESEPROBE
DER FRÜHLING DER COMÖDIANTEN

 

 

 

1. KAPITEL

Unser Zuhause war die Straße, jedwede Straße, die von irgendwoher nach irgendwohin führt. Darum scheuchten die Leute uns fort, wann immer wir ausgedient hatten und keine weitere Unterhaltung versprachen.

Die braven Bürger leben, wo sie leben, und sterben ebenda. Zumal es nach dem großen Krieg, im teutschen Reich nirgends besser ist, als dort, wo Gott, der Gleichmütige, oder das wetterwendige Schicksal einen eben hat fallen lassen.

Das heißt für die Sesshaften, sich ihr Lebtag mit griesgrämigen Nachbarn oder einem geilen Vetter rumzuschlagen; oder für eine unbedacht hingeplapperte Wahrheit den Rest ihrer Tage Buße zu tun.

Wir dagegen waren frei. Frei, wie die Stare, die fliegen, wohin es sie zieht. Nur, wenn sie in Dürrezeiten über Korn und Frucht kommen, werden die Wandervöglein von den Menschen erschlagen. Gleiches galt für uns. Immer waren wir in Dörfern und Städten auf Stimmungswechsel gefasst, die sich wie düstere Wolken über unserer Wanderbühne zusammenballten; froh, wenn wir es im Platzregen der Verwünschungen zu unseren Karren schafften, ehe die Wut der Leute über ihr eigenes trauriges Leben sich auf uns entlud.

Der große Krieg hat Stadt und Land leergefegt, hat den Überlebenden Frucht und Ackerkrume, Geld und Güter der Toten übriggelassen. Jeder Zweite im teutschen Reich ist hin. Alle Seelen, Arm und Reich, hätten es besser haben können. Aber so läuft das nicht. Der Adel hat ruckzuck seine fetten Daumen auf alles brachliegende Land gepresst, und es den eigenen Ländereien einverleibt. Selbst Bauern, deren Großväter eine eigene Scholle besessen hatten, fanden sich als Tagelöhner wieder. Wenn das nicht beweist, dass jeder Krieg ein Enkelsohn des Teufels ist! Er zerbricht die einen, lässt die anderen darben, und mästet nur die Mächtigen.

Obwohl sich manches Fürstentum kaum weiter dehnt als unser Bühnenboden. Der ‚Fürst‘ dieser Bühne war unser Prinzipal Heinrich Borke, genannt Hette. Würde der für seinen Schwank ‚TRAGÖDIA LACHT UND BEISST GERMANIA IN DEN HINTERN‘ das Bühnenbild des teutschen Reiches bestellen, könnte ein Witzbold die Flickendecke aufspannen, die Wieghild, unsere frühere Chefin, hinterlassen hatte. Zerschnipselte Reichsfetzen sind alles, was nach drei Jahrzehnten Krieg vom ‚Heiligen Römischen Reich teutscher Nation‘ noch übrig ist.

Einst durchfuhren wir eine ganze Grafschaft, ehe wir die siebte Strophe von O Du lieber Augustin sangen. Erst vor der Zollschranke des Nachbarlandes fiel es uns auf.

Einer Wanderbühne beschert diese Schlamperei jede Menge Zollspiele; mit Papieren, Gebühren und „Geschenken“. Noch das winzigste Reich verlangt Eintritt ins Panoptikum seiner Landbröckchen.

Letzten August, als Maria, wie alljährlich, gen Himmel fuhr, flüchteten wir vom Sächsischen her gen Norden, und das unter Schnalzen und Peitschen knallen. Dort war die schwarze Pest ausgebrochen. So gerieten wir nach Küttnich. Auch dieses Fürstentum ist so klein, dass Kartografen es übersehen, und Eroberer es übergehen; schlecht für die Steuereinkünfte, aber gut als Fluchtpunkt.

Bisher war es ein schlimmes Jahr gewesen. In der Winterkälte starb Nellas kleiner Sohn Hajo. Nella, halb verrückt vor Trauer, konnte oft nicht spielen. Ignaz, unser alter Wächter, hatte das Gliederreißen. Kaum wurde es Frühling, und Ignaz‘ Zustand besserte sich, vergiftete ein tollwütiger Beutehase seinen Rheingold, einen Münsterländer Mischling. Ignaz musste ihn erschießen. Und über allem hing der Theatersegen wochenlang schief. Grund war die Erste Comödiantin der Schaubühne. Bridje, nett und giftig, wie die Tulpen ihrer Heimat, tat versöhnlich. Aber wir anderen trauten dem Frieden nicht.

Hette schüttelte jeden Montag mahnend die Theaterkasse. In den Messingboden hatte Augustin „Borkes Schaubühne“ gestanzt. Der Kasten schepperte hohl; kein Silber, wenige Taler, kaum Hoffnung. Wir bangten, ob genug übrigbliebe, um ein Winterquartier zu bezahlen. Das hob unsere Laune nicht eben in Trällerhöhen. Selbst der ärmste Landwirt kann sich im Winterfrost an ein Feuerchen drücken; kärglich vielleicht, aber es wärmt doch die Seele und die Knochen.

Wir blieben auf Winterfahrt die ganze Zeit nass. Was nicht nur unsere Gesundheit, auch die Bühnenmusik ankratzte. Liebeslieder krächzender Jungfrauen, weder hell noch angenehm, Heldenarien in gekiekstem Falsett, oder dumpf, wie aus einer geborstenen Basstrommel, so klang die Erkennungsmelodie unserer Winterreisen.

Keiner hatte Verwandte oder Freunde, die uns Quartier gewährt hätten. Kein kunstverliebter Vetter überließ uns eine Remise, noch waren wir bisher einem jener Märchenfürsten begegnet, die Wandercomödianten Winterbleibe boten, sei’s auch nur ein leeres Gehöft oder eine Scheune. Unter einem regendichten Dach, mit Wänden, die sich wie Schildknechte zwischen die Frostriesen und unsere bleichen Gesichter schöben, wären wir schon glücklich gewesen. Wir Frauen könnten die Kostüme und Perücken reparieren. Die Männer würden Bühnenbilder und Requisiten ausbessern. Wir könnten neue Stücke proben, Hette Dialoge basteln, Reime an Reime kleben, damit wir die Worte im Kopf behielten. All das Notwendige eben, für das auf Landfahrt wenig Zeit blieb.

Aber noch strich der Sommer uns laue Lüfte um die Nase, süß vom reifenden Obst und der Heumahd. Wären erst die Erntedank- und Weinfeste gefeiert, wo Comödianten hochwillkommen sind, bräche für uns die Bitterzitterzeit an. Dann würden wir spielen, um nicht zu erfrieren. Die Winterstücke sind bewegter als unsere Sommer-Comödien. Keiner will ein Burgfräulein sehen, dem auf blaue Lippen Rotz aus der Nase tropft. So hielten wir uns an Stegreifstücke mit reichlich Getänzel und Keilereien. Dann wurde uns wenigstens beim Spielen warm. Doch noch waren nicht mal die Haselnüsse reif. Noch konnten wir hoffen, einen Fürsten oder ehrgeizigen Schulzen zu gewinnen, um bis zum Frühjahr Unterschlupf zu finden. Bis das Land sich endlich wieder aus den fahlen Fehlfarben schälte, und heimlich, Blatt für Blatt, in Frühlingsgrün kleidete. Bis die Luft wieder weicher würde und würziger. Bis die Wege wieder frei wären, um uns zurück auf Landfahrt zu locken.

Zur Fastenzeit wollte uns jeder Gönner von hinten sehen. Dann geht es ans Landbestellen oder auf Handelsfahrt; oder zu einem Krieg, den der Herr will oder wollen muss. Und wir Fahrenden rappelten uns auf und zogen davon.

In der Zeit, wenn das Leben leicht ist, wenn es unterwegs Beeren und Früchte, Hasen und Tauben in Fülle gibt, kam kaum jemand ins Theater.

Auf dem Land schufteten die Bauern von morgens bis nachts und fielen erschöpft auf die Strohsäcke; höchstens zog es sie in den Schatten einer Schenke oder ins Heu. Das Leben war süß, die Luft voll Verheißung, und keiner hatte ein Ohr für andere Geschichte als die der eigenen Träume.

Besser stand es in den Städten. Nur sind die Bürger dort verwöhnt. Um ihre Pfennige und ihren Applaus rangen alle Wanderbühnen. So geben sie sich gönnerhaft und lassen sich bespaßen.

Auf dem Land war es der Herbst, der sein Füllhorn über uns ausgoss. Falls es sich zuvor für die Bauern in guter Ernte gefüllt hatte. Dann klimperten in der Theaterkasse Taler; sogar Silberstücke. Die Landleute ließen sie fallen, wie man nach einer Erbschaft Bettlern etwas in den Hut wirft.

Spätestens nach Weihnachten, wenn ihre Mildtätigkeit den Advent vergoldet hatte wie bemalte Nüsse den Christbaum, klammerten sich die Leute an Vorräten und Ersparnissen fest. Nun, alle, außer den hohen Herrschaften, die aber „Borkes Schaubühne“ nie beehrten. Unsere Schwänke und Stegreifpossen waren Theater fürs Volk und den Edlen nicht raffiniert genug. So hing unser Überleben am Spaß der einfachen Leute.

Erst im Frühling, wenn die Lebens- und Liebeslust sich den Winterschlaf aus den Augen reibt, sich räkelt und dehnt, wie eine Tänzerin, bereit für Sprünge und Purzelbäume, dann atmet jedermann auf, freut sich des Daseins, und öffnet die Geldkatze für ein paar Stunden Spaß und Spiel.

Wir beschwerten uns nicht. Einem lausigen Sommer folgt, wie einem Hutzelweib der Tod, ein zäher Winter. Sei’s, dass Krankheit oder Diebe uns überfielen, sei’s, dass ein Dorf uns das Spielrecht verweigerte, oder wir vor einem aufgebrachten Publikum flüchten und die Einnahmen zurücklassen mussten. War im Herbst die Kasse nicht gefüllt, mussten wir im Winter umherziehen. Spielen, wenn man uns ließ. Spielen und frieren. Und den Bühnenwagen über Steilhänge, durch Schlaglöcher und Schneewehen zerren, damit Liesl, unser Zugpferd, nicht unter der Last zusammenbrach.

Einige Winter hatten wir uns an der Mosel herumgetrieben, wo das Wetter und die Moral milder sind als anderswo. Kalt war es doch. Der Frost biss uns mit Reißzähnchen in die Haut. Wir schleppten die Kulissen ins Zelt, damit wir uns im Theaterwagen einmummeln konnten. Aneinandergedrängt in Filze und Felle, wie die Krautwickel, mit denen uns Madlin, unsere Köchin und Kollegin, verwöhnt.

Gut besucht waren die Wintervorstellungen nie. Selbst wenn ein Dorfschulze oder Stadtvogt sich erbarmte, uns eine Spielstatt zusprach, einen Tanzboden oder eine Scheune, war es dort kaum weniger kalt als im Freien. Doch hatten wir mehr Glück als das Publikum. Auch wenn wir in den dünnen Kostümen blau anliefen, wurde es uns Comödianten bald warm unter den Wollperücken, im Gehüpfe und Gespringe der Stegreifspiele.

An dem Mittag, als wir nach Küttnich kamen, wirbelten nicht Schneeflocken, sondern eine Myriade weißer Löwenzahnschirmchen um uns her. Die Luft glühte wie Glasschmelze. Meine Tochter Katja, mit ihren fünfzehn Lenzen fast schon erwachsen, hatte ihre Sandalen in den Wagen geworfen, und sprang von Grasfleck zu Grasfleck über den heißen Boden.

Schon von der Landesgrenze her zeigten sich die Türme des Küttnicher Schlosses. Neben der Straße floss die Küte in ihrem Erdbett hin. Das Flüsschen schlängelte sich grün schimmernd vorwärts, wie eine Wasserfrau, die zwischen moosigen Uferbänken Fangen spielt. Als wir uns der Residenz näherten, hielten wir verblüfft inne. Kaum größer als ein Marktflecken spielte sich Küttnich mit einem Dom und Glockenturm, einem Rathaus, Spital, sogar einer Festscheune, als Stadt auf. Pelagia, Schutzpatronin der Schauspieler, und eine der wenigen Heiligen, die sich nicht hatte köpfen, rädern, ertränken oder zerreißen lassen, zwinkerte uns zu. Denn keine Stadtmauer schnitt die Gemeinwiese vom Ortskern ab.

Noch nie hatten wir hier gastiert. Doch unterwegs war uns, wie Engelswasser, ein Gerücht um die Nase geweht, der junge Fürst von Küttnich sei ein Freund der Oper und der Poesie. Sogar seinen eigenen Hofdichter hielte er sich. Das Schloss, eine ziegelrote Fata Morgana auf dem einzigen Hügel ringsum, flimmerte im Sonnenlicht. Von Ferne schien es, als habe man Schloss Tangermünde in einen Zuber gestopft und zu heiß gewaschen. Doch mochte Schloss Küttnich auch nicht imposant sein, für uns, vor allem für den Prinzipal, wäre es das Größte, dort zu spielen.

Wir waren zuversichtlich. Auch, weil wir auf die Vagantenzinken vertrauten, die Ignaz an einer verwaisten Straßenschenke fand. Solche Nachrichten konnte unser Gefährte besser lesen als wir Comödianten. Ignaz sprach auch das Jenische, die Vagantensprache, die ordentliche Bürger ‚Rotwelsch‘ schimpfen. Oft schon hatte der Alte uns so vor Schaden bewahrt.

Die Stricheleien an der Schenke empfahlen Küttnich als tolerant. Sommers wie winters könne man dort gegen Arbeit eine Mahlzeit bekommen. Zigeuner wären ungern gesehen, Juden geduldet, wenn sie begehrte Sachen, Stoffe oder Geschmeide brachten. Ignaz grinste gallig. Als Jude, las er, solle man sich vor den Küttnicher Zünften hüten. Die hetzten gegen jeden, der sie um Geschäfte brächte. Fahrende Schausteller, Bader und Wandertheater schien man jedoch zu billigen.

Kaum hatte Ignaz, der auf dem Bock saß, die alte Liesl zur Gemeinwiese gelenkt, wankten Madlin und ich aus dem Theaterwagen. Wir waren durchgerüttelt, wie die Trockenerbsen im Regenstock. Damit es auf der Bühne regnet, schüttelt den einer von uns hinterm Vorhang. Die Erbsen klackern darin wie platschende Tropfen. In Notzeiten sparen wir uns den Bühnenregen und essen die Erbsen auf.

Ich band Judy und Punch, unsere zwei Ziegen, los. Sie sprangen davon und versenkten ihre Samtmäuler in die saftige Wiese. Jokel und George schoben den Lastkarren in den Schatten des Wagens. Darauf lagerten, in Wachstuch verschnürt, die Bühnenvorhänge und das Schlafzelt. Bridjes Piet, ein Lausbub mit strohigem Haar und den vorwitzigen Zügen seiner Mutter, hopste vom Karren, hob die kleine Nunu herunter und rannte zu Katja. Japsend tauchten die beiden in die Küte, die hier gemächlich am Wiesensaum lang plätscherte. Nunu, jüngster Zuwachs unserer Wanderbühne, stolperte ihnen wonnekreischend nach.

 

2. KAPITEL

Im Spätherbst vor drei Jahren, als wir über Land zogen, überfiel uns ein Orkan. Wie Segel blähten sich die Wagenplanen. Mit aller Kraft hielten George und Jokel den Karren am Boden. Fast sog der Sturm sogar den schweren Theaterwagen in die Luft. Da entdeckten wir unweit der Straße eine Scheune, vergessen wie eine sterbende Strohriesin inmitten der Stoppelfelder. Dorthin brachten wir uns in Sicherheit. Das Dach, halb eingesunken, spannte sich gerade weit genug, um Schutz zu bieten. Wie wir da kauerten, hörten die Kinder im Herzen des Tosens ein Gewimmer. Augustin, der alles Gruselige liebt, spann im Sturmgeheul bald eine Geistergeschichte. Wir lauschten gebannt und merkten nicht, dass Katja und Piet auf den Heuboden gekrabbelt waren. Bis meine Tochter plötzlich schrie. Ich sprang auf, aber George hielt mich fest.

„Sine!“, brüllte er gegen das Getöse an, „Warte!“ Er kletterte die wacklige Leiter hoch. Einen Lidschlag später kam er zurück, gefolgt von Katja und einem erschrockenen Piet. George trat zu Madlin, und legte ihr ein Lumpen-Bündel in den Arm. Bridje und ich mochten Kinder haben, aber die Mutter unseres Ensembles war Madlin. Ihre Güte umfing uns, wie eine kupferne Wärmflasche, mit der Wohlhabende ihr Winterbett heizen. Das Bündel wimmerte schwach. Madlin tastete das Körperchen darin behutsam ab. Endlich strich sie über das winzige Gesicht und seufzte.

„Ein Mädelchen. Soweit gesund, scheint’s.“ Piet lugte zu Madlin und verkroch sich in Bridjes Arme. Katja war damals zwölf. Auf Erwachsene war sie schlecht zu sprechen, vor allem auf mich.

„Wer vergisst denn einen Säugling?“, blaffte sie. George stupste sie an. „Kate, Deine Mutter kann doch nichts für das kleine Elend hier!“

Damals reiste George schon sieben Jahre mit uns. Er war aus England geflohen, als Theater dort verboten waren und Comödianten, leichter als ihre Jonglierbälle, ihre Köpfe verlieren konnten. Doch er vermisste seine Heimat schmerzlich. Seine Heimat und seine Sprache. Also ließen wir ihn die Theaterziegen taufen. Die beiden büxen dauernd aus. Seither tönt kein Ruf häufiger durchs Comödiantenlager als:

„Judy! Punch! Hiergeblieben!“ George erklärte uns, dass Punch und Judy nur fremde Namen alter Bekannter seien, die englischen Vettern vom teutschen Hanswurst und der Grete. Wenn George das Heimweh packt, plaudert er mit Judy und Punch auf Englisch. Ihre Löffel richten sich aus. Und hie und da kommt ein kurzes Meckern als Antwort. Als verstünden ihn die Ziegen; jedenfalls besser als wir. George war Katjas erster Schwarm. Damals himmelte sie ihn an. Wenn sie dabei auch so kratzbürstig war wie der Feuerbesen, mit dem Ignaz vor jedem Aufbruch die Reste des Kochfeuers sorgfältig in den Boden scharrte. Er, der uns seit Langem so tapfer beschützte, fürchtete sich vor Feuer.

Vor Jahren war George ihm mal zu Hilfe geeilt, als Ignaz sich eine tiefe Schnittwunde zugezogen hatte. Beide verteidigten unser Lager gegen die entrüsteten Bürger von Wer-weiß-wo. Ignaz stieß George fluchend von sich und ließ nur Madlin an sich ran. Trotzdem streifte Georges Blick den Rücken des Alten, der mit wulstigen Brandnarben überwuchert war. Etwas oder jemand hatte dem alten Räuber entsetzliche Qualen zugefügt. Widerstrebend gab Ignaz preis, dass er sich, kaum 14, mitten im Krieg, von einer Drückerkolonne hatte heuern lassen. Die letzten Kriegsjahre war er, halb tot vor Angst, Hunger und Dünnpfiff, Soldat gewesen. Nach dem Krieg schlug er sich als Räuber durch. Nie sprach der Alte von den Gräueln, die er erlebt und wohl auch getan hatte. Stattdessen versuchte er, mit Spott und Scherzen, über seine allzeitigen Albträume hinweg zu stapfen. Abergläubisch wie Madlin und Augustin war Ignaz überzeugt, das Entsetzliche in Worte zu fassen, wecke die bösen Geister. Als schliefen die je, als wären sie nicht immer da, notdürftig verdeckt von einer brüchigen Freude am Dasein.

Das Durcheinander von Ignaz‘ Seele lag offen, wenn auch unergründlich vor uns. Wie eine alte Seekarte, auf der Ungeheuer in den Wellen dümpeln, bunt und harmlos wie Wal- und Drachenkutschen auf einem Kinderkarussell. Meistens blieb Ignaz stumm, langte zu, wo es nottat, paffte sein Pfeifchen und sah sich schweigend die Umgebung an. Und wir, die wir die Gesetze der Fahrenden achten, drangen nicht in ihn.

In der Scheune hatte Madlin das Kind aus den Lumpen geschält und in ihr Schultertuch gewickelt. Sie hieß Katja, ihr aus dem Wagen Stofffetzen und Milch zu bringen. Das Dingelchen in Madlins Armen war hungrig. Gierig nuckelte es an dem Lumpen, den Katja in die Ziegenmilch tunkte, während Madlin der Kleinen das Bäuchlein warm rieb. Augustin hockte sich neben sie und schuf dem bibbernden Überbleibsel von Wem-auch-immer, eine Liege in seiner riesigen Hand. Wie ein schläfriger Bär brummelte er:

„Nu, nu, Mäderl, nu, nu“. So gab er Nunu ihren Namen. Keiner kann die Kinder der Fahrenden vor der Einsicht schützen, dass das Leben voller Gemeinheiten steckt. So erklärten wir Katja und Piet, dass niemand dieses Neugeborene vergessen hätte. Es wäre hier, mitten im Nichts, zum Sterben hingelegt worden. Piet starrte uns ängstlich an, Katja brach in Tränen aus. Plötzlich hielt sie inne, und ihre Augen leuchteten auf.

„Dann können wir es behalten?“, fragte sie entzückt. In einem Atemzug konnte mein Töchterchen sich von einer beißwütigen Ratte in ein Schmuse-Kätzchen verwandeln – und zurück. Hette war, wie erwartet, dagegen. Nella, aber, damals hochschwanger, Bridje, die ihrem verschreckten Söhnchen durchs Haar fuhr, und Madlin, mit dem Kind im Arm wie eine pausbäckige Muttergottes, blitzten den Prinzipal so gefährlich an, dass Hette den Mund hielt. Augustin gurrte dem kleinen Fremdling etwas in seiner Wiener Mundart vor. George war selbst ein Gestrandeter. Und Jokel hatten wir, Jahre zuvor, aufgelesen. Damals war er nicht weniger verloren als dieses Neugeborene.

Jokel hatte man an einer Klosterpforte abgelegt. Die Mönche von St. Bertram liebten den Kleinen und wollten ihn dabehalten. Doch als Jokel älter wurde, hatte er das Beten, Fasten und Beten, Beten und Fasten satt. Er träumte von Abenteuern und Heldentaten. Eines Nachts, während die Mönche schlaftrunken die Matutin hielten, huschte der kleine Novize aus der Kapelle, klettere über die Mauer und war auf und davon. Er schlug sich bis ins nächste Städtchen durch. Dann ins Übernächste. Das lag weit genug weg, um vor den Kirchenbrüdern in Sicherheit zu sein. Hungrig und schorfig drückte sich der Ausreißer in den Gassen herum. Bei einer Keilerei zwischen Betteljungen büßte er die Vorderzähne ein. Bald trug Jokel keine Zukunft mehr in sich, als die eines Streuners, arm an allem, reich nur an Nissen und Wanzenbissen. Im Herbst schlugen wir auf der Gemeinwiese jenes Städtchens unser Lager auf. Einen Spielort überließ man uns nicht. Doch gaben wir täglich Vorstellungen auf der Wagenbühne. In der Kasse klingelten Pfennige. Am Markttag zog Madlin los, um Vorräte zu kaufen, und stolperte über Jokel. So sagt sie. Meine kostbare Eisenschere würde ich darauf wetten, dass der kleine Strolch ihr das Gemüse aus dem Korb stehlen wollte, oder den Münzbeutel. Madlin übersah die diebischen Finger, den Schmutz und die Zahnlücke, und verguckte sich Jokels klare, lachende Augen, die den kläglichen Rest Lügen straften. Seine Leichtigkeit entzückte sie. Ein Seiltänzer, dem wenig fehlt, um über die Wolken zu springen. Sie zog den Jungen mit ins Comödiantenlager. Ergriffen fragte sie, ob wir nicht auch sähen, dass der Straßenlümmel die Seele eines Artisten in sich trug? Uns mangelte es an jungen Spielern und helfenden Händen. Mein Töchterchen war erst wenige Monate alt. Wir stimmten ihr zu. Mit feierlichem Trara, wie Jungs es lieben, nahmen wir Jokel ins Ensemble auf. Damals ein etwa zehnjähriger Bengel ist Jokel heute ein Schelm, dem die Frauen nachlaufen, und der besser Theater spielt, als die meisten von uns. Madlin päppelte ihn auf. Augustin schnitzte ihm neue Zähne. Gewaschen, mit lückenlosem Gebiss und annehmbaren Kleidern, die ich aus Kostümresten nähte, sah er nicht übel aus. Der Schlingel konnte, dank der Mönche, lesen und schreiben. Die Stücke, die Hette ihm gab, gefielen ihm; die Rollen, die er spielen durfte, noch mehr. Schon nach ein paar Monaten entlockte er dem Fagott, das der alte Anton zurückgelassen hatte, annehmbare Melodien. Jokel lernte begierig, was wir ihm beibringen konnten. Von Ignaz manches über Waffen, von Madlin über das Würzen und Kochen, von George und Bridje, wie wir anderen, neue Spielweisen. Augustin brachte ihm das Malen und Schnitzen bei.

Unser Wiener Kollege fertigte nicht nur Marionetten für die Schaubühne an. Zwischen dem Studium der Schulbibel und der Flucht vor einem kaiserlichen Steckbrief war Augustin einen Sommer lang bei einem Bader in die Lehre gegangen. Darum hörten wir auf ihn, als er bei uns die Wasserwäsche einführen wollte. Obwohl berühmte Doctores lehren, dass die Berührung mit Wasser lebensgefährlich sei, weil sich darin Seuchentierchen tummelten, die Pest, Cholera und Syphilis übertrügen. Augustin hielt uns glucksend vor, dass dann die Fische, die wir wilderten, auch vergiftet wären. Forellen, Barsche und Aale fräßen doch Wassertierchen? Aber wir lebten und atmeten, oder? Das gab uns zu denken.

Zumal Waschungen, wie Bürger und Adel sie pflegen, für Fahrende unmöglich sind. Die Edlen wischen sich nur mit feuchten Tüchern ab, lassen mehrmals täglich Tücher und Leibwäsche auskochen, und wechseln die Kleidung. Zu guter Letzt besprengen sie sich mit Engelswässerchen.

Wir Comödianten tauchten stattdessen fortan in jedes Gewässer, das uns lockte. Die Kinder waren selig. Zumal Augustin erst Jokel, dann Katja und später Piet das Schwimmen beibrachte. Hette blieb skeptisch. Wenn alle vergnügt in einem See planschten, folgte er so zögerlich, als hielte Gevatter Tod am Ufer schon das Handtuch für ihn bereit. Augustin lachte ihn aus, bis Hettes gekränkter Stolz ihn über alle Angst hinweg ins Wasser trieb.

Wie viel Gutes Augustin uns tat! Nicht immer brachte ihm das Dankesworte ein. Er war es, der uns die Zähne zog, wenn Gänsefinger, Kamille und sogar das teure Nelkenöl nicht mehr halfen. Als Comödiant ist man ohne Zahnwerk verloren.

Wer könnte ein Publikum noch bändigen, das Apollon, den Gott, mit Spott und faulem Gemüse bewirft, weil der Herrliche zwar huldvoll, aber zahnlos deklamiert? Wer die Zuschauer besänftigen, die Kleopatra ausbuhen, weil ihr das Liebesgesäusel aus einem Mündchen voll brauner Zahnstumpen perlt? Das arme Publikum selbst führte uns vor Augen, was uns ohne Augustin erwarten würde: Zahnfäule, Knochenschwund und Nervenqualen. Wie andere Muscheln sammeln, sammelte Augustin Zähne. Von Waldtieren, Hunden oder, auf den Märkten, von Menschen. Die Rohlinge legte er in Wacholderschnaps ein, bestrich sie mit Pottasche und Sauermilch, und ließ sie in der Sonne bleichen. Wenn es nottat, feilte er die Stumpen zurecht, durchbohrte sie mit Silberdraht und hakte sie an ihren lebendigen Nachbarn fest. Glück hatte, wer bei der Behandlung die Besinnung verlor. Doch dank Augustin hatten wir Comödianten der Schaubühne alle ein brauchbares Gebiss.

Als der alte Ignaz sich von seinem Räuberleben verabschiedete, um mit uns zu ziehen, konnte er die Nahrung mit seinen abgebrochenen Zähnen nur zermahlen. Ignaz Bewegungen waren müde, und sein Genuschel ein traniges Mischmasch aus allerlei Mundarten. Wenn er Äste fürs Kochfeuer schlug, war das jedoch in einem Bruchteil der Zeit getan, die Hette dafür brauchte. Also nahm Anton, unser damaliger Prinzipal, ihn auf, den Ex-Landser und Ex-Räuber, mit Augen, so stumpf, dass man sich die Grausamkeiten, die sie erschöpft hatten, gar nicht vorstellen mochte.

Im Laufe der Jahre wurde es besser mit ihm; was vor allem Augustin und Katja zu danken war. Ignaz war selig, als Katja geboren wurde. Das Lächeln, mit dem er das Neugeborene anstaunte, vergesse ich nie.

Zwei Sommer nach Ignaz Auftauchen trafen wir Augustin, der wieder einmal mit einem Bader unterwegs war. Augustin schnitzte dem alten Räuber ein Gebiss aus Walrossbein. Der war überwältigt. Das Gebiss klackerte zwar, aber Ignaz lachte mit uns über die Knochen-Polka, die seine neuen Zähne tanzten. Alle freuten sich, als Augustin mit uns weiterzog. Am meisten freute sich Ignaz. Der Alte und Augustin verstanden einander ohne viele Worte. Sie schlossen Freundschaft.

In der Sturm-zerzausten Scheune sprachen sich Augustin, Jokel und George dafür aus, die kleine Nunu mitzunehmen. Ignaz schwieg, nickte aber erleichtert, als sich die Sache zugunsten des Kindes entschied. Wochenlang blieb Nunu schwach. Ihr Körperchen wurde von Hustenkrämpfen geschüttelt. Katja wich ihr nicht von der Seite, und schlief unruhig, wenn es Nunu schlechtging. In Madlins Obhut umsorgte sie das Neugeborene. Dann gebar, in einer Winternacht, ganz wie in einem Krippenspiel, Nella ihren Sohn. Der kleine Hajo rettete Nunu das Leben. Zum Glück hatte Nella genügend Milch und Liebe für alle beide, und nahm Nunu neben Hajo als Mutter an. Katja war eifersüchtig. Sie und Piet wurden unausstehlich, weil die beiden Jüngsten sie als Maskottchen der Schaubühne verdrängten.

Viele hielten Nunu und Hajo für Zwillinge. Beide hatten dunkle Lockenköpfe und muskulöse kleine Körper; nur sah Hajo einen aus blaugrün irisierenden Feenaugen an, die Nella ihm vererbt hatte. Nunus Augen waren groß und dunkel wie nasser Schiefer. Die beiden waren munter, wie man es nur dort sein kann, wo der Tod nicht mal ein Gedanke ist, eine Ahnung höchstens, die vorbeischwirrt und verblasst, eingedampft in Wolkenfasern, fortgewischt von einem Regenguss.

Nur kam er dann doch, der Tod, im vergangenen Winter. Und er pflückte nicht den betagten Ignaz, oder Augustin, der vom Leben gebeutelt war. Er sah an der dicken Madlin vorbei, und an Hette, der an unzähligen Zipperleins litt. Der Tod kam weder mit Pestkarren noch Kriegsgeschrei, weder versengte er ein Leben im Fieber, noch brach er ein Genick. Er kam in stiller Nacht und griff nach Hajo, stahl ihm den Atem, und löschte unseren Feenjungen aus.

Nunu war zu klein, um den Verlust ihres Ziehbruders zu begreifen. Sie rief nach Hajo, spielte Verstecken in der Erwartung, er würde auftauchen und schimpfte in halblauten Selbstgesprächen mit dem unsichtbaren Freund. Oft weinte Nunu, und Nella, die ihrer vergeblichen Suche zusehen musste, weinte noch mehr. Wir trauerten mit Nella. Selbst unsere Reibereien verstummten. Der Tod eines Kindes ist etwas unsäglich Trauriges, obwohl so viele sterben. Nella‘ s Frivolität und Eitelkeit, all das, was sonst die Männer amüsiert, und uns Frauen genervt hat, war in der Tinte ihrer Trauer schwarz geworden. Niemand fand in dem blassen Hungerhaken die Verführerin, die Nella bis zu Hajos Tod mühelos spielte. Wie keine andere Frau wusste sie, Männer zu interessieren. Nella sorgte dafür, dass ihr Schmollmund, der Wackelhintern und ihr Prachtbusen Zuschauer ins Theater lockte und dabehielt.

Sie stellte sich uns als Antonella, die Venezianerin vor. Ihr Haar, zu schwarz, um wahr zu sein, und die schillernden Nixenaugen beeindruckten uns, vor allem die Männer. Mit weichem, singendem Akzent spielte die exotische Schöne eine Commedia dell’ arte Szene vor. Doch vergaß sie im Spielfluss den fremden Singsang hie und da, bis Hette sie auslachte. Trotz ihrer Liebe zur Commedia ist Nella nur eine falsche Italienerin aus dem Badischen. Manchmal, wenn ein Kerl sich partout nicht fangen lassen wollte, fluchte sie derb und farbenprächtig. Unter dem duftenden Gewand der Verführerin blitzte die Hure vor, die sie früher mal war.

Bordelle sind im Reich verboten. Die Wirte werden, wie die Huren ausgepeitscht, wenn man sie erwischt. Die Frauen zudem, wie Diebe, an den Ohren beschnitten. So hatte Nella ihr linkes Ohrläppchen eingebüßt. Die dunklen Locken verbargen das zum Glück. Bei uns landete sie, weil ihr Hurenwirt sie kurz zuvor rausgeschmissen hatte. Warum, hat sie uns nie verraten. Nur, dass sie das Kind von Tagelöhnern war, und kaum zwei Jahre zur Schule gehen durfte. Das schleuderte sie uns ins Gesicht, als Hette ihre erste Probe unterbrach. Nella stammelte den Text, und es erwies sich, dass sie kaum lesen konnte. Doch hatte ihr Spiel Charme. Die Bewunderung der Männer im Publikum gefiel ihr, und spülte Geld in die Kasse. Ohne Scheu präsentierte sie ihre Reize, und zählte darauf, dass einer ihrer Anbeter sie von der Bühne weg, zur Frau nähme. Dieser Illusion war auch ihr kleiner Hajo entsprungen, der jetzt in der kühlen Erde Sachsens schläft.

 

3. KAPITEL

Auf der Gemeinwiese in Küttnich schlug Nella die Wagenplane beiseite und fragte matt:

„Kann ich hierbleiben? Ich pass’ auf Nunu und Piet auf, wenn ihr zum Schulzen geht.“ Hette und ich tauschten einen Blick, doch es war Madlin, die Nella an sich zog, und sie umarmte. Von Madlin umarmt zu werden, ist, als werde man in Decken eingewickelt. Sie flüsterte:

„Das geht so nicht weiter, mein Mädchen. Für Dich, für uns, sogar für Hajo musst Du wieder ins Leben finden. Hat er nicht gejauchzt, wenn Du getanzt hast? Und war doch selbst ein kleiner Tänzer, unser Hajo.“ Nella schluchzte. Madlin hielt sie noch fester. „Er ist doch bei uns“, flüsterte sie, „ist und bleibt bei Dir, Dein Feenjunge. Halt ihn im Herzen, und – lass ihn los.“ So klingt Madlin. Voller Wärme und verdrehter Weisheiten. Nella sackte zusammen. Bevor sie auf die Wiese schlug, fing Augustin sie auf. George hievte den Sessel des Prinzipals vom Wagen und Augustin bettete Nella hinein. Madlin schob uns alle beiseite. George raunte Hette und mir zu:

„Ihr müsst Euch beeilen, wenn wir heute noch eine Vorstellung geben wollen. Nehmt Bridje mit, soll die den Schulzen bezirzen. Wir kümmern uns um den Rest.“

Der Rest, das war nicht wenig: Kostüme, Perücken, Schminkkisten, Instrumente, Bühnenbilder und Requisiten. Sollte der Schulze uns erlauben, in der Küttnicher Festscheune zu spielen, zögen wir all das auf Karren dorthin. Falls nicht, müssten wir den Theaterwagen zur Bühne umbauen. Anton, unser alter Prinzipal, und Augustin haben ihn gebaut. Mit Versenkbühne (ein Bodenloch mit Klappe), Bühnenhimmel (ein Tuch zwischen Wagendach und Holzpfosten), Auftrittsgassen (Schlitze im Vorhang) und einem versteckten Galgen für Engelsflüge. Der reinste Zauberkarren.

Aber der Aufbau! Wenn wir nicht hinsahen, schüttelte Pelagia, die Schutzpatronin der Schauspieler, bestimmt das goldene Köpfchen über unsere Plackerei. Ihre Holzstatuette, die Augustin geschnitzt hatte, wachte über uns und unsere Aufführungen. Bei ihren heiligen Lachtränen, der Bühnenaufbau dauerte geschlagene zwei Stunden!

Erst stellten wir das Schlafzelt auf. Dann klappten die Männer die rechte Wagenwand auf, wuchteten ein Gestänge hoch, schnürten und pflockten es fest. Wir Frauen zogen den Bühnenstoff darüber. Winter für Winter färbten wir den mit Galläpfeln, Eisensalz und Waid neu. In der sommerlichen Hitze schimmerte das Gewebe wie Blutstein. Zuletzt räumten wir das Wageninnere aus und verstauten unsere Habe im Zelt.

An Regentagen war es leichter. Da ließen wir die Puppen tanzen. Das Kasperletheater hatte Augustin in der linken Wagenseite versteckt. Darin waren Holzgevierte mit Scharnieren verbunden. Auf Landfahrt bildeten sie eine glatte Wagenwand. Zerlegt und zusammengesteckt, verwandelten sie sich in einen Guckkasten fürs Puppentheater.

Wenn die Bühne eingerichtet war, zogen wir los und rührten die Werbetrommel, um Publikum auf die Gemeinwiese zu locken, die bissige Leute das ‚Zigeunergrün‘ nennen. Wir waren keine Schlitzohren. Wir waren Wandercomödianten. Vor dem Gesetz waren wir alle rechtlos. Doch wir jedenfalls hielten von den Zehn Geboten immerhin sechs.

Klar klauten wir. Nicht wie Räuber, die Schätze stehlen. Mal ein Wams oder ein Hemd. Meistens etwas zu essen. Den möchte ich sehen, der nicht zugreift, wenn er zehn Tage lang nichts in den Magen kriegt. Nicht mal vertrocknete Nüsse oder fauligen Ampfer Salat. Zehn Tage zu hungern, beflügelt keinen. Aber unerträglich ist, wenn Dein Kind Dich mit Augen anstarrt, in denen, außer Todesangst, kein Gefühl der Welt mehr Platz hat. Jeder würde da klauen. Die artigen Bürger wollten davon nichts wissen.

„Leute räumt die Wäsche weg, die Comödianten kommen!“, riefen sie spöttisch, aber besorgt. Trotzdem lockte die Neugierde sie zu uns. Vielleicht, weil ihr Leben doch wenig unterhaltsam war.

In Küttnich rief Hette nach Bridje, die sich gern verdrückte, wenn es Arbeit gab. Sie fummelte im Wagen an einer Perücke herum. Dabei moserte sie halblaut vor sich hin.

„Du kommst mit zum Schulzen“, verfügte unser Prinzipal und wandte sich ab, statt seiner Primadonna aus dem Wagen zu helfen. Ich winkte Katja zu.

„Katinka, los, wir müssen zum Rathaus.“

Wenn meine Tochter je stillsteht, fließt ihr das Haar wie Blütenhonig über die Schultern. Doch, ganz wie ein Bienenbaum mit Ameisen und anderen Krabbeltieren leben muss, lebten wir Fahrenden mit Läusen, Flöhen und Krätze. Im Laufen kratzte Katja sich ausgiebig den Kopf, schüttelte ihn, flocht einen Zopf, und angelte sich ihre Schuhe aus dem Wagen. Madlin würde wieder mal Apfelessig gegen die Läuse ansetzen müssen.

Hette stand triefend in der Mittagshitze. Er roch. Leider nicht nach der Pomade mit Nessel und Kamille, die Madlin uns als Abschminke kocht. Mit Duldermiene schob er sich die Allongeperücke auf den Kopf und zwängte sich in seinen senfgelben Samtrock, ganz der Prinzipal. Doch mochte ihn leicht ein Hitzschlag niederstrecken, ehe wir am Rathaus angekommen wären. Die Mächtigen verachten fahrende Comödianten, Männer wie Frauen; uns Frauen aber noch viel mehr. Deshalb tappelten wir, wie Gänse, hinter Hette her: Katja im rosigen Sommerkleid, Überbleibsel einer verschossenen Königsrobe, gefolgt von Bridje, die ihr eisblaues Mieder und den Strohhut mit Stoffblumen verziert hatte. Als letzter Ton in diesem Leichenzug der Farben kam ich, in schilfgrünem Kleid und Kopftuch, die ich immer auf Behördengängen trug. So stimmte ich die Obrigkeiten gnädig. Ein Weib, halb verblüht, im schlichten, reizlosen Kleid, die weiß, wo ihr Platz ist: im Abseits. Nur auf der Bühne durften wir leuchtende Farben tragen, wie Adlige und Reiche sie lieben.

Vor uns ächzte Hette unter seinen gepuderten Locken. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, wie anders diese Prozession verliefe, wären wir drei nicht als Frauen geboren. Nichts gegen Hette. Ich schätze seine Klugheit und seine Liebe zur Poesie. Zum Prinzipal der Schaubühne qualifizierte ihn nur eines. Er ist ein Mann. Nicht so spritzig wie Katja, nicht so geschmeidig wie Bridje, nicht so zäh wie ich. Aber: ein Mann.